Thorsten Konigorski

Ich bin Mu­si­ker und ar­bei­te im Bi­schöf­lich Mün­ster­schen Of­fi­zia­lat (BMO) als Re­fe­rent. Das BMO ist die kir­chli­che Ver­wal­tungs­be­hör­de für den nie­der­sächs­isch­en Teil des Bist­ums Mün­ster, der sich vom Ort Dam­me im Sü­den über Ol­den­burg und Wil­helms­ha­ven bis zur In­sel Wanger­ooge in der Nord­see er­streckt. Im Of­fi­zia­lats­be­zirk be­treue ich den Fach­be­reich Kir­chen­mu­sik im Re­ferat Kir­chen­ent­wick­lung.

Als zer­ti­fi­zier­ter Or­gel­sach­ver­stän­di­ger or­ga­ni­siere ich die dor­ti­ge Or­gel­­sach­­be­ra­tung. Wir bie­ten ei­ne für die Kir­­chen­­ge­mein­den kos­ten­freie kom­pe­ten­te Be­ra­tung in al­len Or­gel­­bau­­fra­gen. Da­rü­ber hin­aus stre­ben wir ein mö­glichst voll­­stän­di­ges Bild der Or­gel­land­schaft des Of­fi­zia­lats­be­zirks an, das wir – in di­gi­ta­ler Fort­führ­ung zu Fritz Schilds für den ka­tho­li­schen Be­reich nur als Kon­zept­ion vor­lie­gen­dem Or­gel­at­las – auf der Web­sei­te „Or­geln im Ol­den­bur­ger Land“ do­ku­men­tie­ren.

In der Ver­ei­ni­gung der Or­gel­sach­ver­stän­di­gen Deutsch­lands sind die Or­gel­fach­be­ra­ter­in­nen und -be­ra­ter fast al­ler Diö­ze­sen, Lan­des­kir­chen, Re­li­gi­ons­ge­mein­schaf­ten und staat­li­cher Ins­ti­tu­ti­onen or­ga­ni­siert. Sie trägt die in Deut­schland maß­ge­bli­che Aus­bil­dung und Zer­ti­fi­zie­rung der Or­gel­sach­ver­stän­di­gen. Ein Or­gan des Ver­eins ist der Bei­rat für die Aus­bil­dung, dem ich als de­le­gier­tes Mit­glied der AGÄR an­ge­höre.

Ich ha­be Lehr­auf­trä­ge an der Uni­ver­si­tät Vechta und un­ter­rich­te an den dort zur Ver­fü­gung steh­en­den Or­geln in Mu­sik­saal und Au­la. Bis­weilen trifft sich mei­ne Or­gel­klas­se auch in der „Klo­ster­kir­che“ ge­nann­ten Si­mul­tan­kir­che am Fran­zis­ka­ner­platz in Vech­ta. Dort be­fin­det sich ei­ne Or­gel des ex­zel­len­ten Or­gel­bau­ers Gerald Woehl – ge­nau wie in der Re­mi­gi­us­kir­che in Vier­sen, in der ich zwan­zig Jah­re lang Kan­tor war. In der Uni fin­det auch der Grup­pen­un­ter­richt der bi­schöf­li­chen C-Aus­bil­dung un­ter mei­ner Lei­tung statt. Do­zen­tin­nen und Do­zen­ten hier­bei sind die De­ka­nats­kan­tor­in­nen und -kan­to­ren aus den Pfarr­ei­en des Of­fi­zia­lats­be­zirks.

Ich bin Teil der Li­tur­gie- so­wie der Kir­chen­mu­sik­kom­mis­sion des Bi­schofs von Müns­ter, sit­ze im Vor­stand der Ar­beits­ge­mein­schaft der Äm­ter und Re­fe­ra­te für Kir­chen­mu­sik in Deutsch­land, bin Mit­glied der Kon­fe­renz der Lei­ter­In­nen kir­chen­mu­si­ka­li­scher Aus­bil­dungs­stät­ten in Deutsch­land, der Ge­sell­schaft der Or­gel­freun­de so­wie der Ge­sell­schaft für Mu­sik­theo­rie. Ich en­ga­gie­re mich nach wie vor für den Ver­ein Kir­chen­mu­sik in St. Re­mi­gi­us Vier­sen.

Thorsten Konigorski

Kirchenmusik postmodern?

Zum "Tag der Kirchenmusik 1997" verfasste Dr. Ansgar Maria Hoff diesen Text zur Situation der Kirchenmusik in der Postmoderne. Soweit ich weiß, ist dieser Text heute nirgends mehr zu lesen. Dies ist mir Grund genug, ihn hier wiederzugeben. Ich danke Ansgar Hoff für die Erlaubnis dazu.

Das fehlende Zentrum

(von Dr. Ansgar Maria Hoff)1
Postmodernes Denken, das "weithin ästhetisches Denken" 2 ist, zeigt sich in all seinen unterschiedlichen Entwürfen und Vollzügen einig in einem Punkt: es hat kein Zentrum, keinen Ort, auf den ein Rückzug möglich wäre.

Jean-Francois Lyotard spricht vom "Ende der Metaerzählungen" und meint damit, daß es keine übergeordneten direktiven Ideen mehr gibt, die Vorrang beanspruchen könnten gegenüber anderen (dazu zählt unter anderem die Idee der Rationalität)3. Der postmoderne Mensch lebt in der Vielfalt seiner metaphysikfreien Zeitzonen, in der es nur einen wirklichen Imperativ gibt, den der Pluralität. So ist postmoderne Kultur und ihre Ästhetik wesentlich eine, die gegen jegliche Vereinheitlichung die Subversion des Plurals stellt. Dies geschieht freilich nicht allein in ihrem Stil, ihrem Gestus des Pluralen, Postmoderne zeigt sich auch inhaltlich nicht mehr gebunden an einen zentralen Punkt. Mithin wird die Pluralität ihr eigentliches Zentrum, auf das sie verweist. Postmoderne ist in allem ohne Zentrum, gerade weil sie aber kein Zentrum, keine konzentrische Struktur aufzuweisen vermag, erhebt sie die Absenz des Zentralen selbst zum Zentrum. Dabei geht sie freudig, nicht resignativ diese Paradoxalität ein. Stil und Inhalt, Gestus und Gehalt fallen in eins. [In der postmodernen Literatur (als Beispiel) hat der Schriftsteller das Vertrauen in das, was die Zeichen sind und bedeuten, verloren; er glaubt nicht mehr an das Projekt des Erzählens, weil sein eigentliches Thema die Bedeutungsvakanz des Zeichen ist. Bezeichnendes und Bezeichnetes sind nicht mehr in Einheit zu bringen, nicht mehr identifizierbar: auch die Meta-Erzählung des Sinnes eines Zeichens ist postmodern weggefallen. Der postmoderne Literat (etwa Botho Strauß oder Peter Handke) erzählt keine Geschichte mehr, er erzählt, daß es keine mehr geben kann.4

Postmoderne Ästhetik mit Kirchenmusik zugleich zu sehen, scheint zunächst schwer möglich, denn die christliche Kirche und ihre Musik haben ein erstes Anliegen, einen favorisierten "Text", ein Zentrum. Genau das also, was der postmodernen Ästhetik abhanden gekommen ist (ohne daß es ihr fehlen würde), muß und will die Kirchenmusik "thematisieren". Kirchenmusik hat ein Zentrum, und sie ist darauf ausgerichtet.

Während der postmoderne Ästhet sein Material (Zeichen, Farbe, Ton) nicht mehr zu einem Sinn ordnet, sondern Sinn sich in seiner Kunst vervielfältigt verliert, versucht der Kirchenmusiker seinem Gottes-Thema sinnfällig zu entsprechen und scheitert doch.

Was sich auf der Seite der Postmodernen als die Abdankung des Zentrums und Sinnes in der pluralen Verquicktheit von allem mit allem zeigt, ist beim Kirchenmusiker die Aufgabe des Materials vor seinem eigentlichen Thema. Beiden gemeinsam ist ihre kritische Einschätzung des Kunst-Materials. Doch während der Postmoderne sich klar macht, daß seine Kunst keinen (einen) Sinn "macht", weil sein Material vielmehr über diesen Singular hinausschießt und sich plural verstreut, sieht der Kirchenmusiker sein Ton-Material immer schon von der Undarstellbarkeit seines Gottes überragt. 5

Gleichzeitig fehlt der Kirchenmusik damit immer auch Gott als Thema, weil er sich ihres Zugriffs verschlägt. So verliert sie ihr Zentrum, nicht ohne es zu behalten (denn sie vertraut auf Gott noch da, wo sie ihn vermißt).

Musik als Spiel der Differenzen

Während postmoderne Ästhetik sich zu keinem Zeitpunkt mehr an ein Zentrum bindet, also eine Ästhetik des freien Spiels ist und dies allenthalben auch anzeigt, wird sich Kirchenmusik immer auf ihren theologischen Mittelpunkt hin orientieren, den Punkt, auf den sie letztlich nie kommen kann. In aller Kirchenmusik, so hoffnungsfroh sie auch gestimmt sein mag, liegt die Tristesse, daß sie dem nicht begegnet, von dem sie getroffen ist. Kirchenmusik teilt mit Theologie (was wäre Kirchenmusik anderes als Theologie) das schmerzlich schwankende Wissen um die Distanz Gottes, die mal als Nähe, mal als Ferne erscheint. Kirchlich gebundene Musik kann immer nur von der "Weltseite" 6 her ihren Gott betrachten und ihm die Frage nach seiner Distanz stellen: "Wozu sind wir hier, wenn dein Reich nicht von dieser Welt ist?" (R. S. Thomas) Wenn postmoderne Ästhetik eine ohne Zentrum ist, dann ließe sich kirchenmusikalische Ästhetik vergleichend begreifen als eine Ästhetik, der das Zentrum fehlt, weil sie sich nach ihrem Gott sehnen muß. Ihrer Sehnsucht merkt man die Ferne zwischen Mensch und Gott an - denn: auch Nähe ist nur reduzierte Distanz. Kirchenmusik ist in diesem Sinn nichts besonderes, sie teilt mit der Theologie den negativen Index - die Sehnsucht nach dem Zentrum.

Was aber kann sich Kirchenmusik von postmoderner Ästhetik abschauen, wenn nicht den freien Umgang mit der unüberbrückbaren theologischen Distanz zu ihrem Zentrum: Distanz kann auch als Freiraum erscheinen. In der Postmoderne ist der negative Index des fehlenden Zentrums zum Signal der Pluralität geworden. Von Pluralität lässt sich ablesen, daß es postmodern kein Zentrum mehr gibt. Die Wendung hin zur Stil-Pluralität entspräche postmoderner Ästhetik, denn welche Geste, welcher Stil, welche Praxis der Kirchenmusik kann für sich unter dem Aspekt, daß Gottes-Sehnsucht das einzige ist, von der der Mensch wirklich genaues weiß, für sich in Anspruch nehmen, näher an Gott zu sein als anderes. Welche Musik ist näher am Zentrum als die andere? Es kann also nicht darum gehen, eine musikalisch Praxis zu einem Ersatz-Zentrum zu machen. Die Distanz zu Gott, dieser allen gemeinsame negative Index unserer Gotteserfahrung ist das, was zugleich das "freie Spiel der Differenzen", der unterschiedlichen Stile auch in der Kirchenmusik möglich macht. Eine eindeutige Favorisierung eines Stils verstößt gegen die "zentrale" solidarische Erfahrung des theologischen Abstands zu Gott. Hier zählt keine Stimme mehr als die andere und auch nicht zwei mehr als eine. "Wir müssen mit dem Plural rechnen." 7

So darf nicht der gregorianische Choral von populärer Sakralmusik verdrängt werden, nicht Bach von Penderecki, nicht Reger von Pärt, nicht "alte" von "neuer" oder umgekehrt. Jede Stilprävalenz in der Praxis der Kirchenmusik unterschlägt den Stil des anderen und verstößt damit gegen den christlichen Stil (um den es doch geht), den Stil, der das Andere gelten lässt. Insofern treffen sich postmoderner Stil und christlicher.

Praxis im Plural?

Josef Wohlmuth stellt fest: "Die wirklich zeitgenössische Musik in der Feier der Liturgie ist eher die Ausnahme." 8 Wenn Kirchenmusik sich der Anforderung des Stilplurals stellen will, dann wird sie sich fragen müssen, inwieweit ihre Praxis sich pluraler Ästhetik durch die "Ausgrenzung" neuer Musik verschließt. Kirchenmusik darf nicht stillschweigend über musikalische Formen hinweggehen, die sich vom "Paradigma des harmonisch Schönen" zugunsten der Atonalität verabschiedet haben. 9 Neue Musik sprengt gewiß oftmals die kirchenmusikalischen Leistungsmöglichkeiten der Gemeinden (Laienchöre, finazielle Kapazitäten, Zeitaufwand etc.); wo aber die praktische Vorherrschaft eines musikalischen Stils andere Stile vergessen macht, wir die Forderung nach dem Stil christlicher Offenheit eingeklagt werden dürfen. Christlicher Stil (der über postmodernen hinausgeht) lässt nicht nur gewähren (was auch Desinteresse noch tut), sondern beachtet. Beachtung des Anderen zeigt sich kirchenmusikalisch im Hören auf Anderes und im aktiven Hörenlassen dessen, was fremd, vielleicht schwierig, sogar unzugänglich ist. Argumente, die auf die Überbeanspruchung des Hörers durch "neue" Musik verweisen, unterschlagen, daß sich der Gläubige immer schon in Dimensionen bewegt, die ihn in einer Radikalität überfordern, vor der die musikalische Überforderung maßvoll erscheint. Wer die Maßlosigkeit des Glaubens, die Strapaze des Credos erträgt, indem er glaubt, wird auch die Erfahrung musikalischer Hermetik, die Verschlossenheit von Kunst, als Ausdruck, wenn schon nicht seines eigenen, dann doch zumindest eines anderen Glaubens (eines anders Glaubenden und Zweifelnden) er-tragen können. Auch die Musik der Kirche hat den Plural ihrer Stile auszuhalten, um nicht zu vergessen, daß hinter jedem musikalischen Text das Zeugnis eines anderen Glaubensstils, einer anderen Gotteserfahrung - die Spur eines anderen Christen steht.

Mit der Praxis der prävalenten Erhebung eines musikalischen Paradigmas der Tonalität ebnet Kirchenmusik ihre Möglichkeiten ein. Wenn sie die Wahl zwischen "alter" und "neuer" Musik nur ausnahmsweise zugunsten letzterer trifft, gewinnt ihr Umgang mit den eigenen Möglichkeiten etwas Habitualisiertes und Gewöhnliches. So fällt kirchliche Musik hinter ihre Freiheiten zurück.

Der Kirchenraum aber, der Raum ihrer Musik ist der Raum der christlichen Freiheit.

Postmodernes Schweigen

Postmoderne Ästhetik hat sich von der Beherrschung durch epochenspezifische Paradigmen losgemacht. Sie hat sich von den letzten bestimmenden Normen der Avantgarde (wie Schock, Entstellung des Materials, Überführung der Kunst in Lebenspraxis 10, Fortschritt) getrennt.

Mithin braucht sich auch Kirchenmusik in postmodernen Zeiten nicht mehr reglementieren zu lassen, wenn sie "alte" Musik aufführt. Die Postmoderne hat den Fortschrittsgedanken der Avantgarde verabschiedet in dem Bewusstsein, daß Neues nicht als das Bessere auftreten kann gegenüber dem Vorangegangenen. Das eigentliche Neue ist nicht mehr das, was das Alte aufhebt, sondern die Differenz. Die Diagnose der postmodernen Ästhetik lautet, daß Innovationen nicht mehr möglich sind (insofern kann man von "neu" auch in der Musik nur in Anführungszeichen sprechen). Alles ist irgendwie schon einmal dagewesen. 11 Der Spielraum der Kunst ist nach vorne (avant) hin nicht mehr offen, wie er es noch in der Moderne war. Kunst gibt sich nach-geschichtlich, weil sie keine Entwicklungsgeschichte mehr schreibt, schreiben will, schreiben kann. Der nun ausbleibende Druck, an der Spitze stehen zu müssen, Vorhut (avantgarde) zu sein, macht Kunst frei, zu einer anderen Sicht auf ihre Vergangenheit, und sie entdeckt dabei auch neu, daß sie sich nicht mehr schämen muß, das Alte zu zitieren. Wiederholung ist postmodern nicht mehr die bloße Wiederholung des Selben, denn die Technik des Wiederholens verändert das Zitierte. Wiederholung selber ist schon Anderes. 12 Es geht nicht mehr um Neues, es geht in der Postmoderne um Differenzen, die Erweiterung des Plurals (auch um das wiedergeholte Alte).

Aus dieser Perspektive kann Kirchenmusik selbstbewusst auf ihre eigene Tradition blicken. Der Umgang mit ihrer Geschichte, die Aufführung alter Werke braucht sich nicht mehr die Avantgarde -Vorwürfe des Konservativismus gefallen lassen. Postmoderne Ästhetik versteht die Wiederholung als Differenz. Für Kirchenmusik heißt das: Sie kann mit dem, was sie vorfindet, arbeiten, ohne sich unzeitgemäß zu empfinden, sie darf auf die Geschichte ihrer (Ton-)Sprache zurückkommen.

Indem der postmoderne Mensch die Grenzen des Neuen erkennt, weist er sich zugleich selber in seine kulturellen Schranken. Im 19. Jahrhundert hätten ihm die Wege des Neuen noch offengestanden, heute aber findet er sich immer vor dem schon Kreierten wieder (die Geschichte ist die vom Hasen und Igel). Hatte die Moderne noch das Ziel, sich der Vergangenheit durch die aggressive Dynamik des Neugeschaffenen zu entledigen, so weiß die Postmoderne, daß das Neue irgendwann seine Ressourcen erschöpft hatte und an der eigenen Forderung scheiterte.

Umberto Eco stellt fest, daß die avantgardistische Moderne im Schweigen endet 13 (nicht zuletzt weil sie ihr kritisches Potential rigoros gegen sich selbst wendet und nicht mehr nur gegen das Althergebrachte). Die postmoderne Einsicht in das Ende der Moderne nimmt dieses Schweigen in sich auf, sie ist nicht ohne die Erfahrung dieses Schweigens vorstellbar. In postmodernen Kunstwerken bleibt die radikale Selbstkritik der Moderne weiterhin virulent, sie werden aber nochmals gleichsam "redigiert" 14, insofern sie zurückgreift auf Stilmomente, die die Moderne eigentlich hinter sich gelassen hat, etwa das des Pathos. 15

Die Musik der Kirche kann der postmodernen Einsicht der Grenzen der Kunst Selbstbewusstsein abgewinnen. Sie kann gelassen zurückgreifen auf ihre Vergangenheit. Zugleich hat sie es sich zu verbieten, ihre Geschichte bloß selektiv wahrzunehmen. Kirchenmusik muß anzumerken sein, daß sie in ihren Wiederholungen der alten Musik die Moderne und ihre Tendenz zum Schweigen verstanden hat. Postmoderne kommt nach der Moderne: hier kann nichts übersprungen werden.

Das Schweigen der modernen Kunst hat (neben kunsttheoretischen Gründen) viel (wenn nicht alles) mit den katastrophalen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zu tun 16, Erfahrungen, die vor allem die nun schweigenden Opfer gemacht haben.

Auch deshalb stellt sich der Kirchenmusik noch vor ihrem ersten Ton die Frage: Hat sie schon geschwiegen?



[1] Der Verfasser nähert sich dem Thema als musikalischer Laie. Seine Anmerkungen entstehen auf der Basis philosophischer Wahrnehmung der Postmoderne und halten sich offen für Korrekturen durch Leute vom kirchenmusikalischen Fach.
[2] Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte zur Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, darin Ders., Einleitung S. 1-43, hier S. 41.
[3] Die Gründe für das Ende der Meta-Erzählungen sind politischer, geschichtlicher, sprachphilosophischer, religionsphilosophischer und erkenntnistheoretischer Art, worauf hier nicht weiter eingegangen wird.
[4] Selbst da, wo noch das Projekt des Erzählens betrieben wird (z.B. Umberto Eco, Der Name der Rose, München 1986), ist es bereits eingeklammert und zurückgenommen durch Ironie.
[5] Schon ein Lobgesang ist ein Darstellungsversuch.
[6] Martin Buber, Ich und Du, Stuttgart 1995.
[7] Jaques Derrida, Am Nullpunkt der Verrücktheit - Jetzt die Architektur, in: Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte zur Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, (in Folge abgekürzt: Wolfgang Welsch) S. 215-232, hier: S. 217.
[8] Josef Wohlmuth, Plädoyer für mehr Zeitgenossenschaft in der liturgischen Musik, in: Musica Sacra 115 (1995), H.2, S. 98-104, hier: S. 104
[9] Vgl. Ebd., S. 99
[10] Vgl.: Peter Bürger, Theorie der Avantgarde. Frankfurt a. M. 1988, S. 67
[11] Friedrich Nietzsches Gedanke von der ewigen Wiederkehr des immer Gleichen hat wesentlich die postmoderne Ästhetik auf diese Einsicht vorbereitet.
[12] Zur Theorie der Wiederholung vgl.: Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 1992.
[13] Vgl: Umberto Eco, Postmodernismus, Ironie und Vergnügen, in: Wolfgang Welsch, S. 75-78.
[14] Vgl.: Jean-Francois Lyotard, Die Moderne redigieren, in Wolfgang Welsch, S. 204-214.
[15] Nochmals sei verwiesen auf Peter Handke und Botho Strauß als Beispiele für Literatur. Was den Umgang mit dem Moment des Schweigens betrifft, könnte man heranziehen das wortlose Schauspiel von: Peter Handke, Die Stunde da wir nichts voneinander wussten, Frankfurt a.M. 1995.
[16] Man denke an die Lyrik Paul Celans.

— 15. Januar 2013